Rituale strukturieren unser Leben. Wir feiern den Schulabschluss, unseren Geburtstag oder Weihnachten. Wir inszenieren uns vor anderen. Ähnlich in der Politik: Rituale wie Krönung oder Amtseinführung verlaufen nach bestimmen Mustern - in der Öffentlichkeit. Welche Macht politische Rituale in Geschichte und Gegenwart haben, erfahren wir von der Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger.
Rituale sind "soziale Magie", sagt die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger. Sie sind im privaten wie im politischen oder öffentlichen Raum weit verbreitet, quer durch die Jahrhunderte. Die zum Schwur erhobenen Finger, das Niederknien oder Küssen sowie Prozessionen - all das gibt es auch in Demokratien.
"Rituale sind allgegenwärtig im privaten Alltagsleben. Aber auch im demokratischen Gemeinwesen sind politische Rituale allgegenwärtig."
Politische Rituale haben Macht. Sie können soziale und politische Ordnung aufrechterhalten, manifestieren - und auch zerstören.
Frieden stiften oder Krieg
Rituale bilden soziale Gemeinschaften und sie ziehen Grenzen. Obwohl sie Gesellschaften strukturieren - oder vielleicht aus diesem Grund - werden politische Rituale heute vielfach skeptisch gesehen.
"Immer hat man die Vorstellung, es gehe hier um sinnliche Überwältigung statt um inhaltliche, vernünftige, rationale Überzeugung."
Welche Merkmale machen ein Ritual aus? Das erläutert die Ritualforscherin Stollberg-Rilinger sehr anschaulich.
Ein Ritual...
- ist eine Handlung, die mehrere Personen ausführen
- hat Wiederholungscharakter
- kann verändert werden, muss aber wiedererkennbar bleiben
- hat perfomativen Charakter: es bewirkt, was es darstellt
- findet vor Zeugen statt, ist eine Inszenierung
Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas hat konstatiert, die Macht politischer Rituale in der Moderne verblasse. In der Tat: In unserer Gesellschaft wird heute Grundsätzliches durch unsere Verfassung geregelt. Zudem wird unsere Gesellschaft komplexer. Aber erledigt sind politische Rituale deshalb nicht.
"Das berühmte Beispiel: Der Kniefall Willy Brandts vor dem Ehrenmal zum Gedenken der Toten des Warschauer Aufstands. Eine Geste der Demut, der Selbsterniedrigung, eine Geste der Verzeihungsbitte, der Sühne."
Barbara Stollberg-Rilinger ist Professorin für die Geschichte der frühen Neuzeit am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 2018 ist sie die Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Ihren Vortrag "Die Macht politischer Rituale" hat sie am 23. Oktober 2018 auf Einladung der Gerda-Henkel-Stiftung und des Industrie-Clubs Düsseldorf in Düsseldorf gehalten.
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