In Deutschland steigen die Suizidzahlen. Nina berät Menschen unter 25, die in einer Krise stecken und entwickelt gemeinsam mit ihnen erste Schritte, wie sie dort rauskommen. Sie fordert von der Politik mehr und besser finanzierte Präventionsangebote.
"Schön, dass du dich meldest. Das war mutig." – Mit diesen Worten antwortet Nina von Ohlen den Menschen, die ihr anonym eine E-Mail schreiben. Sie ist Standortleiterin bei U25, einer kostenlosen Online-Suizidpräventionsberatung, die sich speziell an Menschen zwischen 12 und 25 Jahren richtet.
Suizid ist die häufigste Todesursache bei Menschen unter 25
Der Grund, warum sich die Beratungsstelle dezidiert an junge Menschen richtet, ist folgender: Bei den unter 25-Jährigen ist Suizid die häufigste Todesursache. Insgesamt nehmen sich in Deutschland jedes Jahr mehr als 10.000 Menschen das Leben. Seit 2020 steigen die Zahlen an.
Im Jahr 2022 lag die Zahl der Selbsttötungen – erstmals seit 2015 – wieder über 10.000 Fällen, und auch 2023 stiegen die Suizidzahlen erneut leicht an.
"Es ist großartig, dass sich jemand traut, irgendwohin zu schreiben und zu sagen, wie es ihm oder ihr geht."
Alle, die Nina und ihrem Team eine Nachricht schreiben, bezeichnet sie als mutig. Oft sei es ein erster Schritt in Richtung Hilfe und ein Zeichen: Du wirst gesehen, du bist nicht allein.
Die Menschen, die sich an U25 wenden, haben oft niemanden in ihrer Umgebung, an den sie sich wenden können, erzählt Nina. Manche hätten starke Mobbingerfahrungen gemacht, schwierige familiäre Verhältnisse oder psychische Probleme. Es melden sich sowohl junge Menschen, die bereits in Therapie sind, als auch diejenigen, die auf einen Platz warten oder unabhängig davon Begleitung suchen.
Die entlastende Wirkung des Schreibens
Egal, wie lange der Austausch dauert, er findet immer per Mail statt und bleibt anonym. Anonymität spielt dabei eine zentrale Rolle in der Suizidprävention, erklärt Nina. Das Schreiben sei für viele entlastend und könne oft ein erster Schritt ins Hilfesystem sein.
"Dadurch, dass sie uns anonym schreiben, können sie alles mitteilen, was sie sonst nicht aussprechen würden, weil sie Angst haben, nicht verstanden zu werden."
Unterstützung ohne Ratschläge oder Therapieanspruch
Nina versucht bei jeder Nachricht zu verstehen, was ihr Gegenüber am stärksten belastet. Das Wichtigste, was sie vermitteln will, sei: Ich nehme dich ernst. Deine Krise ist eine Krise, die zählt. "Wir sind allerdings keine Therapeut*innen", betont Nina, "aber wir bleiben kontinuierlich da, wir hören zu, wir halten aus."
Zum Konzept von U25 gehört, dass niemandem direkt geraten wird, zum Arzt/zur Ärztin oder zur Therapie zu gehen, erläutert Nina. "Wir sind grundsätzlich vorsichtig mit Ratschlägen. Vielmehr versuchen wir gemeinsam mit der Person herauszufinden, was sie gerade braucht." Denn es sei für jede*n ein großer Schritt, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und dort über die eigenen Gefühle und Gedanken zu sprechen.
Forderung: mehr Geld von der Politik
Es gibt in Deutschland verschiedene Anlaufstellen für Menschen in Krisensituationen oder mit suizidalen Gedanken. Eine Übersicht gibt es hier.
Doch diese Form der Beratung hat einen Haken, sagt Nina: Sie wird fast ausschließlich von Ehrenamtlichen gestemmt. Zudem sind viele Angebote projektfinanziert und damit zeitlich befristet. Angesichts der wachsenden Zahlen fordert Nina mehr Unterstützung, das heißt mehr Geld vom Staat.
Das fordert auch Ute Lewitzka. Sie ist Psychiaterin und wurde 2024 an der Universität Frankfurt zur ersten Professorin für Suizidprävention in Deutschland ernannt. Davor hat sie jahrelang am Universitätsklinikum Dresden Menschen mit Suizidgedanken behandelt.
"Es ist unfassbar berührend, Menschen in suizidalen Krisen zu begleiten und zu erleben, dass es wieder gut werden kann."
Warum Menschen daran denken, ihr Leben zu beenden
"Fast jeder Jugendliche hat zu irgendeinem Zeitpunkt Suizidgedanken", sagt Ute Lewitzka. Grundsätzlich werden diese Gedanken von verschiedenen Faktoren beeinflusst: genetische Veranlagung, Botenstoffe im Gehirn sowie bestimmte Persönlichkeitsmerkmale.
Relevant sei auch, ob wir Probleme als lösbar empfinden oder daran verzweifeln, erklärt Lewitzka. Gerade die Resilienz, also die psychische Widerstandsfähigkeit, können wir trainieren und lernen, die Rahmenbedingungen unseres Lebens aktiv zu gestalten.
"In der Suizidprävention geht es vor allem um das menschliche Begleiten."
Für Freunde, Familie und Bekannte sei es hingegen wichtig, nicht wegzusehen. "Wenn wir merken, dass es jemandem nicht gut geht, können wir das offen ansprechen", sagt Ute Lewitzka. Dabei müsse niemand den Anspruch haben, "wie ein Therapeut" zu sprechen. "Es reicht, Sorge zu zeigen und zuzuhören", so die Professorin. Schon kleine Gesten wie "Ich rufe dich heute Abend an" oder "Soll ich dir etwas aus dem Supermarkt mitbringen?" könnten Betroffenen das Gefühl geben, nicht allein zu sein.
Politik will unterstützen, zückt aber kein Geld
Politisch, erklärt Ute Lewitzka, gibt es eine breite Zustimmung für mehr Prävention. So existiert inzwischen eine "Nationale Suizidpräventionsstrategie". Sie setzt unter anderem auf die sogenannte Methodenrestriktion: Dabei wird der Zugang zu Suizidmitteln erschwert, etwa durch Brückensicherungen oder Fangnetze. "Studien zeigen, dass auf diese Weise bis zu 95 Prozent der Menschen gerettet werden können, die sich in einer akuten Krise befinden", sagt Lewitzka.
Am Ende braucht es für den Ausbau von Unterstützungs- und Beratungsangeboten vor allem eines: mehr Geld. Doch genau hier ist im Bundeshaushalt bislang nichts vorgesehen. "Wie und ob es mehr Mittel geben wird, ist fraglich", sagt Ute Lewitzka.
Auch Nina und ihr Team wünschen sich mehr finanzielle Unterstützung und eine feste Absicherung ihrer Arbeit. Solange das nicht der Fall ist, versuchen die Ehrenamtlichen, mit den vorhandenen Mitteln bestmöglich zu helfen und für Menschen in Krisen eine verlässliche Anlaufstelle zu sein. Bei manchen heiße das, einige Tage in Kontakt zu stehen, bei anderen hingegen Monate oder sogar Jahre.
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