Bis zu 800 Mal fassen wir uns jeden Tag selbst ins Gesicht. Warum? Weil wir es brauchen. Wenn Säuglinge nicht berührt werden, sterben sie. Auch Säugetiere lieben Berührungen. Jeder Katzen- und Hundebesitzer kann ein Lied davon singen. Über den vergessenen Sinn der Berührungen referiert Martin Grunwald.

Die Umarmung eines geliebten Menschen, die Kühle eines edlen Seidenschals auf der Haut oder die raue Rinde eines alten Baumes: Sie alle lassen uns die Umwelt auf ganz besondere Art und Weise wahrnehmen. Und doch ist unser Tastsinn derjenige, dem Wissenschaftler bisher die geringste Bedeutung beigemessen haben. Für den Geruchssinn gibt es die Nase als Organ, für die Sehkraft das Auge und für das Hören das Ohr. Die Haut ist zuständig für Berührungen – überlebenswichtig und dennoch wenig erforscht.

"Menschen haben ein innewohnendes Bedürfnis zu gegebenem Anlass die dreidimensionalen Körper in direktem Kontakt mit einem anderen Körper zu bringen."
Martin Grunwald, Haptiker an der Universität Leipzig

Als Säugling sind Berührungen elementar, um überleben zu können. Für Martin Grunwald ist diese Sinneswahrnehmung die wichtigste überhaupt, denn ohne sie sind wir zum Sterben verurteilt. Und auch mit Haustieren kuscheln wir – und Säugetiere berühren sich ebenfalls ständig untereinander. Haptik und Emotionen wirken unmittelbar zusammen. Forschende haben das sogar im Zusammenhang mit ungeborenen Babys im Mutterleib festgestellt.

"Ärgert sich die Mutter oder raucht sie, dann erhöht sich die Selbstberührungsrate des Fötus in beträchtlicher Art und Weise."
Martin Grunwald, Haptiker an der Universität Leipzig

In unserer Haut, den Sehnen und Muskeln – überall stecken sogenannte Rezeptoren, die auf Berührung reagieren. Bis zu 900 Millionen solcher Rezeptoren haben die Forscher entdeckt. Und wenn wir berührt werden, sorgen sie dafür, dass verstärkt ein Bindungshormon ausgeschüttet wird, das Oxytocin. Und auch wer es nicht zu glauben wagt: Sogar einfachste Lebewesen wie zum Beispiel Amöben verfügen über einen ausgeprägten Tastsinn, erklärt Haptik-Experte Grunwald.

Berührungen und Mensch-Technik-Interaktion

Martin Grunwald leitet das Haptik-Forschungslabor an der Uni Leipzig. Seinen Vortrag "Berührungswelten: Wie fühlt unsere Gesellschaft?" hat er am 19.2.2019 im Rahmen der Reihe "Mit allen Sinnen: Wie wir zusammen leben" der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften und der Schering Stiftung gehalten. Mit Grunwald diskutierten anschließend vor Publikum: die Informatikerin für Mensch-Technik-Interaktion, Elisabeth André von der Universität Augsburg, die Theater- und Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter von der Freien Universität Berlin und der Sozialpädagoge Reiner Delgado vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband.

Shownotes
Der vergessene Tastsinn
Tatsch me, if you can
vom 23. Juni 2019
Moderator: 
Hans-Jürgen Bartsch
Vortragender: 
Martin Grunwald, Wahrnehmungspsychologe an der Universität Leipzig
Diskussionsteilnehmerinnen: 
Elisabeth André, Universität Augsburg
Gabriele Brandstätter, Freie Universität Berlin
Reiner Delgado, Blinden- und Sehbehindertenverband Deutschland
Diskussionsleitung: 
Volkart Wildermuth, Wissenschaftsjournalist