Schreiben ohne Wörter? Klingt erst mal paradox. Der Literaturwissenschaftler Hannes Bajohr nutzt Computerprogramme, um digitale Literatur herzustellen. Auf diese Weise hat er ganze Romane verfasst. Bemerkenswert ist: Das Lesen seines aktuellen Romans "Durchschnitt" empfiehlt er nicht.

Nein, Bajohr schreibt nicht selbst - zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Stattdessen programmiert er beispielsweise einen Algorithmus, "der dann etwa mit einem vorhandenen Text etwas macht oder einen neuen Text produziert", sagt er.

"Das Interessante ist da die Frage, wer den Text geschrieben hat: Die Maschine oder der Programmierer? Oder: Was ist das Werk - der Output, der dann ein Text ist oder der Code selber?"
Hannes Bajohr, Literaturwissenschaftler und Autor

Digitale Literatur nennt man diese Art von Texten. Die digitalen Technologien schaffen dabei aber keineswegs das Papier ab, sagt Bajohr: "Was passiert, ist, dass bestimmte Medien andere nicht ersetzen, sondern ergänzen". Digitale Texte können also durchaus auf Papier oder als Buch erscheinen. 

Gedichte aus Zeitungsartikeln

Bajohr nutzt für seine Art der Literatur auch bestehende Programme aus der Computerlinguistik. Die suchen zum Beispiel innerhalb eines Textes nach Sätzen, die gleich anfangen oder gleich strukturiert sind. Zum Beispiel alle Sätze, die mit "ich bin" beginnen. "Daraus kann man wieder interessante Literatur kombinieren", sagt er. 

Eines seiner ersten Projekte waren die sogenannten Automatengedichte. Dabei hat Bajohr Zeitungsartikel mit einem Computerprogramm neu gemischt und hinterher bearbeitet. Aus einem Artikel zur Schwarz-Gelben Atompolitik entstand so folgendes Gedicht:

ALS MEILER IN DIESEM DEUTSCHLAND

im september, herr, kommen meiler
und extraportionen der bürger im herbst

die kanzlerin wirkte das netz mit:
alle szenarien moderat hochprofitabel,
aber durchschnittswerte verlieren berufung

wermutstropfen reststrommenge

viel verlängerung, kaum verzicht
und baden-württemberg

überhaupt: ende

[Textgrundlage: Sebastian Fischer, "Schwarz-Gelb beglückt Atomindustrie", spiegel.de, 09.08.2010.] Quelle: hannesbajohr.de

Die digitale Welt ist immer Text

"Programmiert habe ich schon immer. Und ich habe mich immer dafür interessiert, was man da eigentlich mit Text machen kann. Denn Text ist sozusagen immer der Input in solche Programme", sagt Bajohr. Auch Fotodateien sind Texte. Dateien sind immer Texte.

"Das ist überhaupt etwas, das unsere digitale Welt so auszeichnet, dass alles auf Text basiert. Und das hat mich fasziniert."
Hannes Bajohr, Literaturwissenschaftler und Autor

Seinen 2015 erschienenen Roman "Durchschnitt" sieht Bajohr als einen "ironischen Kommentar auf die Frage: Was ist der Kanon deutscher Literatur?" Er hat dafür aus zwanzig Klassikern der deutschen Literatur die durchschnittliche Satzlänge ermittelt: Sie beträgt 18 Wörter. Alle Sätze anderer Länge wurden aussortiert. Die 18-Wörter-Sätze hat er dann alphabetisch sortiert. 

Regt zum Nachdenken an

Bemerkenswert ist, dass es Bajohr nicht darum geht, dass Menschen das Buch als Ganzes lesen. Dazu sei es nicht gemacht. Er selbst habe das auch nur einmal getan. Man könne aber gut in dem Buch stöbern.

"Das ganze Lesen des Romans ist nicht zu empfehlen. Man kann aber gut drüber nachdenken."
Hannes Bajohr, Literaturwissenschaftler und Autor

Der realistische Roman ist die dominierende Form in der deutschen Literaturlandschaft - und die hat sich seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr verändert, sagt der promovierte Literaturwissenschaftler. "Durchschnitt" ist da für ihn eine Art Gegenmittel, bestehende Strukturen aufzubrechen. Das Ende der klassischen Autorenschaft sieht er allerdings nicht nahen: "Es geht immer darum, das Schreiben zu erweitern, es geht nicht darum, das zu ersetzen oder den Autor zu ersetzen."

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Mehr digitale Literatur

  • Hannes Bajohr und Gregor Weichbrot betreiben zusammen das Textkollektiv 0x0a  - einen Blog mit Beiträgen zum Thema.
  • Der "Sündenbot" von Gregor Weichbrot ist ein Bot, der sich auf Twitter öffentlich "für Katastrophen zwischen 735 v.Chr. und 2016 entschuldigt". Die Daten werden aus Listen und Tabellen der Wikipedia extrahiert.
  • Ein ähnlicher Bot ist der "Subtitle buoy" auf tumblr und Twitter - er nutzt Fotos von einer Boje im Atlantik und beschriftet sie mit trending topics.
  • Oder der @bot_on_holiday, der Bilder von Google Street View mit Texten einer speziellen Software kommentiert.
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Shownotes
Digitale Literatur
"Das Lesen des Romans ist nicht zu empfehlen"
vom 14. Oktober 2017
Moderatorin: 
Jenni Gärtner
Gesprächspartner: 
Hannes Bajohr, Literaturwissenschaftler und Autor