Es ist ein schreckliches Kapitel der Arzneimittelforschung: Noch bis in die 1970er Jahre wurden Medikamente oft an Kindern und Jugendlichen in psychiatrischen Einrichtungen und Heimen getestet. Eine Studie belegt Fälle in einer Einrichtung in Niedersachsen – das ist aber längst kein Einzelfall.
Wenn ein Arzt ein Medikament verabreicht, sollte er wissen, was drin ist und wie es wirkt. Das galt für einige Ärzte, die in den 1950er und 1960er Jahren mit Arzneimitteln an Kindern und Jugendlichen in Heimen experimentierten, nicht. Sie wollten die genaue Dosierungsempfehlungen vor allem von neuen Neuroleptika und Antidepressiva herausfinden – auf Kosten der Kinder und Jugendlichen.
"Die Versuche betrafen etwa vier Prozent der Jungen und Mädchen, die in der Psychiatrie in Wunstorf untergebracht waren. Betrachtet man nur die 1960er Jahre, waren es sogar etwa neun Prozent."
Der Abschlussbericht, der diese Arzneimittelversuche untersucht, belegt die Fälle für die Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf bei Hannover. Die Sozialforscherin Christine Hartig konnte die Patientenakten einsehen.
Dabei stellte sie für diese Einrichtung fest: Die Arzneimittelversuche wurden an etwa vier Prozent der Jungen und Mädchen, die in der Psychiatrie untergebracht waren, durchgeführt. In den 1960er Jahren waren es sogar etwa neun Prozent.
Betroffene sollten sediert werden
Die Psychiatrie in Niedersachsen ist aber kein Einzelfall – nur bei vielen Einrichtungen fehlen brauchbare Akten, sagt unser Reporter Klaus Jansen. Ein großer kirchlicher Heimbetreiber in Niedersachsen hatte der Forscherin den Zugang zu seinem Archiv sogar komplett verwehrt.
Der Grund für die Experimente: Die Kinder und Jugendlichen sollten sediert werden, damit sie leichter zu betreuen waren. In vielen der Einrichtungen handelte es sich um schwierige und verhaltensauffällige Kinder. Mit den Testreihen wollten die Ärzte herausfinden, wie die Betroffenen möglichst kostengünstig ruhig gestellt werden konnten und in welcher Dosierung sie die Medikamente abgeben mussten.
Staatliche Einrichtungen wussten von Testreihen
Das waren keine heimlichen Testreihen von Pharmakonzernen oder korrupten Ärzten: Verschiedene staatliche Einrichtungen wussten nicht nur davon, sie gaben die Versuche teilweise sogar selbst in Auftrag.
Offenbar drängten einige Institutionen, wie etwa das Landessozialamt Hannover oder auch Lehrpersonen, darauf, Medikamente in höherer Dosierung zu verwenden, obwohl das medizinisch nicht sinnvoll erschien, sagt Klaus Jansen. Der Verdacht lege außerdem nahe, dass staatliche Stellen so versuchten, Geld für Medikamente zu sparen.
"Bis Mitte der 1970er Jahre waren Bestimmungen zu Arzneimittelversuchen nur vage formuliert. Juristisch gesehen ist es also schwierig, staatliche Einrichtungen zur Verantwortung zu ziehen."
Solche Versuche sind höchst illegal, sagt Klaus Jansen. Das Problem: Die Bestimmungen für Arzneimittelversuche waren bis in die 1970er Jahre sehr vage.
Allerdings gab es auch damals schon medizinische Richtlinien, die wohl missachtet worden sind: Sollten die Eltern der Kinder den Versuchen nicht zugestimmt haben, dann wäre das auch damals als Körperverletzung klassifiziert worden.
Finanzielle Unterstützung für Betroffene
Die Stiftung Anerkennung und Hilfe unterstützt Betroffene dabei, eine finanzielle Entschädigung zu erhalten. Bis Ende des Jahres können Betroffene noch Anträge stellen. Ein weiterer wichtiger Punkt bleibt die Aufklärung, sagt Klaus Jansen. Denn wie der Fall in Niedersachsen zeige, ist das wohl nur der Anfang der Aufarbeitung, und noch längst nicht das Ende.