Im Alltag und im Job dominiert oft die Annahme, alle müssten extrovertiert sein. Introvertierten Menschen wird oft das Gefühl vermittelt, dass ihnen etwas fehlt – dabei gibt es etliche Wege, am Arbeitsplatz präsent zu sein, ohne laut zu schreien.
Ein Raum voller Menschen, die sich beruflich miteinander vernetzen möchten, oder die lange Videokonferenz, in der die eine den anderen mit ihrem Redeanteil übertrumpfen möchte: Solche Situationen auf der Arbeit können für viele von uns anstrengend sein. Menschen mit introvertierten Charaktereigenschaften können diese zusätzlichen Reize regelrecht überfluten.
Ihr Gehirn funktioniert nämlich anders. Es ist auch stimuliert, wenn keine Reize von außen kommen. Das Gehirn introvertierter Menschen ist also mehr aktiv und dementsprechend schneller überreizt, erklärt Sprachwissenschaftlerin und Autorin Sylvia Löhken, die sich viel mit Introversion beschäftigt. Um sich wohl zu fühlen, brauchen sie weniger Reize und soziale Kontakte als extrovertierte Menschen.
Extraversion als Maßstab, Introversion als Mangel
Entscheidet man sich als introvertierter Mensch aber, seinen Feierabend lieber zu Hause auf der Couch zu verbringen als bei einem Afterhour-Drink mit den Kolleg*innen in der vollen Kneipe, wird die Introversion von anderen oft als negative Persönlichkeitseigenschaft bewertet.
Im Alltag wie im Job tendieren wir dazu, extrovertierte Charakterzüge als vorteilhafter zu beurteilen als introvertierte, sagt Persönlichkeitspsychologin Jule Specht von der Humboldt-Universität zu Berlin. Vielmehr gebe es das Stereotyp, alle müssten extrovertiert sein.
Die Erwartung, sich anzupassen
Introvertierte Menschen kann das unter Druck setzen, sich dieser stillen Erwartungshaltung anzupassen, wenn sie in ihrem Job weiterkommen möchten.
Bianca kennt das. Introversion und Extraversion waren für sie lange kein Thema. Als sie in einem Workshop von ihrer Arbeitsstelle als sensibel und zurückhaltend beschrieben wurde, hat sie darin erst mal ein Defizit gesehen: "Ich habe es als Schlag ins Gesicht empfunden, und dachte: 'Jetzt muss ich wirklich etwas tun, das fällt ja total auf – Superpower: unsichtbar'."
Wie Bianca sich fühlt, können Melina und Timon Royer nachvollziehen. Sie beschreiben sich beide als introvertiert und geben anderen Introvertierten in ihrem Podcast "Still und Stark" Tipps, wie sie ihre Charaktereigenschaften im Job für sich nutzen können – statt darin ein Defizit zu sehen. Viele Introvertierte hätten wie Bianca das Gefühl, sich verstellen zu müssen, um nicht übersehen zu werden, sagt Melina.
Stärken und Motivation klar haben
Im Joballtag schauen sie zum Beispiel, wie sie auf sich und ihre Akkus achten und sich gleichzeitig regelmäßig auch aus der Komfortzone heraus bewegen können. Möchte Melina zum Beispiel auf großen Events networken, überlegt sie im Vorfeld, mit wem sie sich vor oder nach einem Vortrag für ein Einzelgespräch verabreden kann. So umgeht sie die Situation, später in der Menschenmenge nach Kontakten zu suchen. Das nimmt ihr den Stress.
"Ich merke, dass mir das eins zu eins viel mehr liegt als große Gruppen. Ich würde dann auf einer großen Konferenz nicht unbedingt in einer Riesenmenge stehen, sondern mich vorher verabreden."
Reize von außen gering halten
Ähnlich kann es helfen, sich aus einem Großraumbüro in ein Einzelbüro zu setzen, mehr E-Mails zu schreiben als zu telefonieren und regelmäßig an Auszeiten zu denken. Es geht darum, die Reize von außen möglichst einzuschränken.
Introvertierte Menschen können oft gut schreiben, analytisch denken, konzeptionieren, zuhören, sind reflektiert und emphatisch. Diese Stärken zu kennen, hilft vielen von ihnen, im Job weiterzukommen, sagt Timon.
Als er sich selbstständig gemacht hat, hat er sich auch seine Absicht für sein Vorhaben klar gemacht. "Ich will da draußen sein, ich will mein eigenes Ding machen und dieser Wunsch nach Freiheit ist größer als der Wunsch nach Sicherheit", sagt er.
Ist die Absicht klar, geht es im nächsten Schritt darum, zu schauen, welche Bedingungen dafür erfüllt sein müssen, also welchen Weg es zum Ziel einer erfolgreichen Selbstständigkeit braucht.
"Ich habe mich schon in so manches Kind hineinversetzen können, das Panik vor Mathe hat. Viele sagen mir, ihnen würde das total helfen, weil ich anders da rangehe als meine Kolleginnen."