Schon nach dem Attentat in Christchurch wurde über Radikalisierung im Netz diskutiert. Nach dem Anschlag in Halle ist das wieder Thema. Marina Weisband, Grünen-Politikerin und Expertin für digitale Beteiligung, erklärt die Strukturen der Radikalisierung in Internetforen und macht Vorschläge, was verbessert werden könnte.
Grünenpolitikerin Marina Weisband war sehr mitgenommen, als sie über Twitter recht schnell von dem Anschlag in Halle erfuhr. Am 9. Oktober 2019 tötete dort ein rechtsextremistischer Attentäter zwei Menschen. Eigentlich wollte er eine Synagoge stürmen.
Marina Weisband ist Jüdin. Dieser Anschlag hat Angst in ihr ausgelöst. Beziehungsweise verstärkt. Denn Angst sei auch vorher schon da gewesen. So ein Anlass bestätige diese Angst dann. Der Anschlag, sagt sie außerdem, hat sie auch wenig überrascht, das habe sich zusammengebraut: "Ich habe fest damit gerechnet, dass irgendwann etwas passiert."
Rechte nutzen das Internet gezielt, um Menschen zu radikalisieren
Die Expertin für digitale Beteiligung sieht das Internet nicht als Ursache für die Radikalisierung der rechten Szene. Aber es sei ein Werkzeug, das von Rechten gezielt genutzt werde, um an Mensch ran zu kommen, die das Gefühl haben, keinen Platz in der Gesellschaft zu haben und enttäuscht sind. Das passiere nicht nur in Deutschland, sondern international.
"Das Internet ist der Ort, wo die extreme Rechte – auch international – gezielt versucht, Menschen an sich zu binden, und sie radikalisiert.
Marina Weisband beobachtet, dass die Radikalisierung schrittweise verläuft. Zu Anfang sei es eher eine Sozialisierung – etwa über gemeinsame Sprache, das gemeinsame Entwickeln von Insider-Witzen oder Memes. Da finde eine Sozialisierung statt, die außerhalb des digitalen Lebens, also zu Hause zum Beispiel oder in der Schule, nicht passiere.
Marina Weisband: Auch Attentäter von Halle bezog sich auf Youtuber Pewdiepie
Eine gefährliche Parallele zwischen den Attentätern von Christchurch und Halle sei nicht nur, dass sie beide ihre Taten im Netz streamten, sondern auch, dass sie sich auf den Youtuber Pewdiepie bezogen. Der Attentäter von Halle hatte nämlich in Großbuchstaben "Kill all Jews" in sein Manifest geschrieben, was Weisband auf ein umstrittenes Meme von Pewdiepie zurückführt.
Der Youtuber, der mehr als 100 Millionen Abonnenten hat, hatte aus dem Ausspruch "Death to all Jews" ein Meme gemacht. "Pewdiepie verbalisiert unterschwellige Überzeugungen und rassistische Narrative, getarnt als Witz und Ironie", kritisiert Marina Weisband. Dadurch breche er nicht nur ein Tabu, sondern ebne auch den Weg für weitere Radikalisierung.
Grenzüberschreitung getarnt als Witz ist ein Problem
Marina Weisband glaubt nicht, dass Pewdiepie ein Nazi ist. Aber er setze seine Witze, die Grenzen überschreiten, gezielt ein, um krass zu wirken und Klicks zu generieren. Auch weil er wisse, dass Jugendliche auf solche politisch inkorrekten Witze stehen. Diesen Pewdiepie-Mechanismus hat sie schon einmal ausführlicher in ihrer Kolumne beim Deutschlandfunk erläutert.
"Die Ermutigung, rassistische Gedanken zu äußern, funktioniert ganz hervorragend über Memes, Witze, Ironie."
Die Psychologin Marina Weisband sieht in solchen antisemitischen Witzen eine große Gefahr, denn es gebe keine Grenze zwischen Provokation und Radikalisierung. Wenn etwas gesagt wird, ist es immer ein Türöffner, so Weisband. Witze hätten den Effekt, dazu zu ermutigen, rassistische Gedanken zu äußern.
Weisband: Attentäter darf nicht als Einzeltäter eingestuft werden
Während seiner Tat hatte der Attentäter von Halle fünf Zuschauer, die alles live mitverfolgten – er hatte die ursprüngliche Gamingplattform Twitch zum Streamen genutzt. Für Marina Weisband ist klar, dass der Attentäter ein Netzwerk hat, und nicht als Einzeltäter eingestuft werden darf. Sie führt aber aus, dass die neuen rechten Netzwerke anders aufgebaut sind und anders funktionieren, als wir es bisher kennen.
Rechte Netzwerke: keine klare Organisation mehr
Marina Weisband spricht von "stochastischem Terrorismus". Damit meint sie, dass es keine klare Organisation gibt mit klaren Befehlen zum Angriff. Vielmehr gehe es den Drahtziehern in rechten Netzwerken darum, die Wahrscheinlichkeit von Anschlägen immer weiter zu steigern. Das gelinge ihnen durch Rhetorik, durch Vernetzung oder gezieltes Unterjubeln von Waffenbauplänen. Ziel sei es, dass irgendwann, irgendwo jemand einen Anschlag verübt. Die Wahrscheinlichkeit dazu werde im Netz gesteigert.
Marina Weisband glaubt, dass die veränderten Strukturen rechter Netzwerke im Internet Behörden wie den Verfassungsschutz irritieren. Sie glaubt ebenfalls, dass es an Kenntnissen der Szene mangelt: "Ich weiß zum Beispiel gar nicht, ob der Verfassungsschutz 8chan überwacht. Sollte er aber." Die Netzwerke seien einsehbar, würden aber zu wenig überwacht, so Marina Weisband. Vor diesem Hintergrund findet sie die jüngste Forderung von Innenminister Horst Seehofer nach mehr Internetüberwachung auch befremdlich.
Behörden müssen besser ausgebildet werden
Marina Weisband wünscht sich, dass Kriminalbeamte besser ausgebildet werden, um die Befugnisse, die sie haben, besser nutzen zu können. Sie wundert sich, dass der Täter von Halle zuvor niemandem aufgefallen ist.
Die Expertin für digitale Beteiligung hat in Gesprächen mit Lehrern, Polizisten oder Menschen, die in der Extremismusprävention arbeiten, die Erfahrung gemacht, dass viele gar nicht wissen, was Memes sind, oder was Streaming bedeutet. Das hält sie für gefährlich – und auch ignorant, weil es das Desinteresse an der Lebenswirklichkeit junger Leute spiegele. Dadurch entstünde ein blinder Fleck, den die Rechte sich zunutze mache, so Marina Weisband.
"Die Rechte wird jeden blinden Fleck, den die Gesellschaft hat, finden und ausnutzen."