Lola ist Jüdin, Lola ist Deutsche und Lola hat die Nase voll. Voll vom Antisemitismus in ihren Social Media Newsfeeds. Deshalb geht sie nach Israel, genauer gesagt nach Tel Aviv. Lola ist die Hauptfigur des Romans "Winternähe". Einen Teil ihrer Lebensgeschichte hat sie von Mirna Funk, der Autorin des Romans.
Mirna Funk, geboren 1981, arbeitet als Journalistin in Berlin. Sie hat Geschichte und Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin studiert, interessiert sich für Mode, Lifestyle - und für Antisemitismus. Der begegnet Mirna Funk nicht nur, aber vor allem auch in den sozialen Netzwerken. Nicht einfach so unter irgendwelchen Posts. Es sind ausgerechnet ihre Freunde, die sich plötzlich zu antisemitischen Sprüchen hinreißen lassen.
Allerdings begegnet Antisemitismus Mirna Funk nicht erst, seit sich der Gaza-Krieg wieder zugespitzt hat. Immer wieder wird sie mit Vorurteilen konfrontiert. Über das Jüdischsein zum Beispiel. Denn aus Sicht der orthodoxen Juden, ist Mirna Funk keine Jüdin, weil nur ihr Vater, nicht aber ihre Mutter jüdisch ist. Deshalb wird ihr häufig das Jüdischsein abgesprochen. Nicht etwa von den Orthodoxen. Sondern vorwiegend von nichtjüdischen, ja nicht religiösen Menschen.
Lola kämpft
In "Winternähe" verknüpft Mirna Funk ihre eigenen Erlebnisse mit denen der Hauptfigur Lola. Viele Dinge, die Lola passieren, sind so oder ähnlich auch Mirna Funk passiert. Aber Lola geht weiter, ist kantiger und unbequemer als die Autorin. Im Gegensatz zu Mirna Funk zieht Lola nämlich vor Gericht, als ein Selfie von ihr mit einem Hitlerbärtchen versehen wird. Denn Lola hat die Nase voll davon, dass andere Menschen bestimmen, wer sie ist und wer nicht.
"Lola konnte ich etwas erleben lassen, was in meiner Realität nie stattgefunden hat."
Wer Mirna Funk ist, das weiß die Autorin inzwischen ganz genau. Und natürlich birgt ihre Herkunft im Zusammenhang mit der deutschen Geschichte jede Menge Fallstricke und Fettnäpfchen. Nicht nur für andere, auch für sie selber. Und natürlich ist sie Jüdin, sagt sie. Aber natürlich ist sie auch Deutsche. Am Ende ist das einfach das Dilemma, in das sie hineingeboren wurde. Das bestimmt einen Teil ihrer Identität. Und das bestimmt, zumindest momentan, auch ihr Schaffen als Autorin und Journalistin. Das bestimmt aber nicht notwendigerweise auch jede Sekunde ihres Alltags:
"Im alltäglichen Leben bin ich frei von deutsch oder jüdisch Sein, sondern auch einfach nur Mirna."
Worauf es Mirna Funk in "Winternähe" ankommt, ist vor allem Aufklärung über ein Thema, das viel komplexer ist, als es in sozialen Netzwerken dargestellt wird - oder überhaupt darstellbar ist. Es ist zum einen die Unwissenheit über die Hintergründe des Gaza-Konflikts, die nicht nur ihre Freunde und Bekannten zu vorschnellen Äußerungen verleitet. Zum anderen werden aber häufig Begriffe verwendet, die mit dem Holocaust in Zusammenhang stehen. Das, findet Mirna Funk, geht einfach gar nicht. Und so lässt sie Lola nach Tel Aviv gehen, mitten hinein in einen erneuten Ausbruch des Gaza-Kriegs im Sommer 2014.
Auch Mirna ist zu dieser Zeit nach Tel Aviv gezogen. Das hat sie mit ihrer Romanfigur gemeinsam. Es gibt aber auch ziemlich deutliche Unterschiede zwischen Lola und ihrer Schöpferin. Beide sind manchmal unbequem. Aber Lola ist alles in allem eine ziemlich krasse Persönlichkeit. Lola ist unzuverlässig, taucht ab und meldet sich nicht mehr bei Freunden, lügt - kurz: Lola ist kantig, polarisiert und erzeugt ordentlich Reibung und Widerstand. Auch beim Leser.
"Mir war wichtig eine Figur zu schaffen, die in unterschiedlichen Dilemmata steckt. Sie ist zweite und dritte Generation. Ich wollte eine Figur schaffen, die zeigt, wie schwierig das ist."
Weil Lola als Halbjüdin bei ihren Großeltern aufwächst, ist sie nicht nur dritte Generation Nachkriegsopfer, sondern irgendwie auch zweite Generation. Sie bekommt also die volle Breitseite der Traumata. Und dann ist da noch ihr israelischer Freund, der Soldat war und einen jungen Palästinenser mit einem Gummigeschoss getötet hat. Ein Ereignis, dass ihn die Seiten wechseln lässt. Er orientiert sich politisch Links, will die Palästinenser unterstützen. Und Lolas Opa, der ebenfalls in Tel Aviv lebt, wettert vehement gegen die Linksradikalen Israelis. Damit hat Mirna Funk alle Seiten des Konflikts in eine Familie gepackt. Und das ist gar nicht mal so ungewöhnlich, denn in Israel gehört genau das zum Alltag.
Mehr über Mirna Funk:
- Antisemitismus: Ohne Mich | Mirna Funk im Zeitmagazin über ihren Umzug nach Tel Aviv
- "Winternähe" - eine Leseprobe | pdf-Datei auf den Seiten des S. Fischer Verlags