Während der Shoah erreichten Papst Pius XII tausende Bittschreiben jüdischer Menschen. Jetzt werden sie zum ersten Mal analysiert und digitalisiert. Sie werfen ein neues Licht auf die Kirchengeschichte. Ein Vortrag des Kirchenhistorikers Hubert Wolf.

Am 2. März 2020 öffnete der Vatikan seine Archive für die Zeit von 1939 bis 1958, des Pontifikats von Pius XII. Seitdem können Forschende zum ersten Mal Einblick nehmen in die Schreiben, die den Papst während der Zeit des Nationalsozialismus erreichten. Darunter sind tausende Bittschreiben jüdischer Menschen, die von ihrer Verfolgung und Not berichten und den Papst um Hilfe bitten.

"Wir können bisher nur schätzen, um wie viele jüdische Menschen es sich genau handelt, die auf die Hilfe des Papstes hofften. Derzeit gehen wir von rund 15.000 aus."
Hubert Wolf, Theologe und Kirchenhistoriker

In einem groß angelegten Projekt mit dem Titel "Asking the Pope for Help" will der Theologe und Kirchehinstoriker Hubert Wolf zusammen mit seinem Team, diese Bittschreiben digitalisieren, analysieren und für alle zugänglich machen. Denn diese Schreiben werfen ein neues Licht auf den Umgang der Katholischen Kirche mit der Shoah.

Wolf beschreibt als Ziel des Projektes, jüdischen Menschen, deren Andenken die Nationalsozialisten auslöschen wollten, wieder eine Stimme zu geben – nämlich ihre eigene.

Der Weg der Bittschreiben im Vatikan

In seinem Vortrag erzählt Hubert Wolf am Beispiel eines Bittschreibens des Juden Franz Brinnitzer, wie mit solchen Schreiben im Vatikan umgegangen wurde, wer mitentschieden hat, welche Schreiben dem Papst persönlich vorgelegt wurden und wie der Vatikan darauf reagiert hat.

Auszug aus dem Bittbrief eines Juden an Papst Pius XII. während des Nationalsozialismus aus dem Jahr 1942
© Deutschlandfunk Nova

Hubert Wolf erzählt auch von den Schwierigkeiten und Herausforderungen, die vielen tausend Schreiben aufzufinden, zuzuordnen und zugänglich zu machen. Doch schon aufgrund der bisherigen Arbeit des Projekts lassen sich wichtige historische Schlüsse ziehen. So stehe fest, sagt der Kirchenhistoriker, dass der Papst in der Zeit von 1939 bis 1945 durch diese Schreiben über die Judenverfolgung informiert wurde.

"Er wusste durch die Bittschreiben von 1939 bis 1945 regelmäßig von unten aus allen Ländern Europas über die schrecklichen Situation, in der jüdische Menschen sich befanden."
Hubert Wolf, Theologe und Kirchenhistoriker

Papst Pius XII. hat sich während seines gesamten Pontifikats nie direkt zur Shoah geäußert. Der Grund dafür kann nicht sein, dass er nicht von der Judenverfolgung gewusst hat, sagt Hubert Wolf.

Hubert Wolf ist Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Im Jahr 1985 wurde er zum Priester geweiht. Er ist Inhaber der 23. Johannes-Gutenberg-Stiftungsprofessur der Universität Mainz. Im Rahmen dieser Stiftungsprofessur hält er die Vorlesungsreihe "Die geheimen Archive der Päpste – und was sie über die Kirche verraten". Aus dieser Reihe stammt sein Vortrag "Heiliger Vater retten Sie uns! Bittschreiben jüdischer Menschen an Pius XII. aus der Zeit der Shoah". Er hat ihn am 18. April 2023 in Mainz gehalten.

Shownotes
Archiv des Vatikans
Briefe an den Papst: "Bemerken muss ich, dass ich Jude bin..."
vom 15. Juni 2023
Moderatorin: 
Sibylle Salewski
Vortragender: 
Hubert Wolf, Theologe und Kirchenhistoriker an der Universität Münster