2014 hat die Russische Föderation Teile der Ukraine besetzt, 2022 folgte die Vollinvasion. Die Osteuropawissenschaftlerin und Politologin Gwendolyn Sasse zeichnet in diesem Vortrag nach, wieso dieser Vollangriff erfolgt ist, und wie sich die ukrainische (Zivil-)Gesellschaft wehrt.

Sasse geht davon aus, dass sich in diesem Krieg zwei fundamental unterschiedliche politische Systeme gegenüberstehen: Der Autoritarismus in der Russischen Föderation unter Putin und die sich über Jahre und Jahrzehnte demokratisierende ukrainische Gesellschaft.

"Wirtschaftlliche Fragen von der Politik zu trennen ist ein Signal an den Kreml gewesen."
Gwendolyn Sasse, ZOIS Berlin

Die kriegerischen Handlungen Russlands gegenüber der Ukraine vor 2022 seien im Westen häufig zur "Ukrainekrise" verharmlost worden. Die deutsche und europäische Politik gegenüber Putin sei nach der Krim-Annexion 2014 von starken Widersprüchen geprägt gewesen. Einerseits habe die EU deutliche wirtschaftliche Sanktionen verhängt, andererseits wirtschaftlich weiterhin mit dem Aggressor zusammengearbeitet.

Entwicklung zum autoritären Präsidialsystem

Der Weg der Russischen Föderation in den Autoritarismus sei aber nicht erst mit Putin beschritten worden. Vielmehr handele es sich um eine kontinuierliche Entwicklung hin zu einem autoritären Präsidialsystem. Das sei auch von Westen lange Zeit nicht erkannt worden.

"1993 gibt sich das unabhängige Russland unter Jelzin eine Neue Verfassung. Ein sehr starkes Präsidialsystem, mit weitreichenden Vollmachten."
Gwendolyn Sasse, ZOIS Berlin

Sie konstatiert eine bewusste Apolitisierung der russischen Gesellschaft. Zwar gebe es immer wieder lokale Protestbewegungen und Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit Missständen. Diese Proteste aber würden sich nicht zu einer Bewegung verbinden, sondern entluden sich nur jeweils vor Ort.

Sasse problematisiert auch die deutsche oder "westliche" Sicht auf die Ukraine. Diese sei von Fehleinschätzungen geprägt.

"Es gibt viele Missverständnisse über die Ukraine. Dazu gehört vor allem das Verständnis eines in Ost und West gespaltenen Landes."
Gwendolyn Sasse, ZOIS Berlin

Diese Spaltung in Ost und West innerhalb der Ukraine gibt es nicht, sagt Sasse. So habe beim ukrainischen Referendum 1991 eine absolute Mehrheit für die Unabhängigkeit des Landes votiert, auch im Südosten der Ukraine. Auf der Krim habe ebenfalls eine Mehrheit dafür gestimmt, auch wenn diese geringer ausgefallen sei als im Rest des Landes.

Zweisprachigkeit innerhalb einer Nation würde von vielen Deutschen als "potenziell konfliktbehaftet" gedeutet. Dabei sei die Zweisprachigkeit der Ukraine historisch gewachsen und alltägliche Sprachrealität im Südosten der Ukraine (gewesen).

Ihre Daten aus Bevölkerungsbefragungen in der Ukraine zeigten allgemein ein hohes Maß an gesellschaftlichem Engagement und allgemeiner Zustimmung zu einer demokratischen Staatsform.

Gwendolyn Sasse ist wissenschaftliche Direktorin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien Berlin (ZOiS) und Professorin am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihren Vortrag mit dem Titel "Russlands Krieg gegen die Ukraine" hat sie am 28. August 2023 auf Einladung der 36. Berliner Sommeruni an der Freien Universität gehalten, unter der Überschrift "Globale Ordnung unter Stress".

Unser Titelbild zeigt eine Explosion am 10. Februar 2024 in einem Öldepot in Charkiw. Bei dem Drohnenangriff starben sieben Zivilisten, darunter drei Kinder, mindestens 57 Menschen wurden verletzt.

Shownotes
Zwei Jahre nach dem Überfall
Russlands Krieg gegen die Ukraine
vom 15. Februar 2024
Moderation: 
Katja Weber
Vortragende: 
Gwendolyn Sasse, Wissenschaftliche Direktorin Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien Berlin (ZOiS)
  • Überblick und Begrifflichkeiten
  • Warum dieser Krieg?
  • Ukrainische Unabhängigkeit und Zivilgesellschaft
  • Der Krieg seit 2014
  • Ausblick